Suzanne Prinz
Mariella Mosler
Kurzführer documenta X, 1997
Ausgangspunkt der komplizierten Bodenreliefs Mariella Moslers ist die Analyse des gegebenen Raums. Auf der Basis des Vorgefundenen entstehen auf dem Papier exakte geometrische Entwürfe, die auf den Boden übertragen und anschließend in Sand ausgeführt werden. Wichtige Voraussetzung für die Umsetzung - neben der gleichmäßigen Körnung und vollkommenen Trockenheit des industriell vorsortierten Sandes - ist die von jedem künstlerischen Autonomiestreben freie Unterordnung unter den Entwurf und die handwerkliche Präzision.
Glichen viele ihrer früheren ornamentalen Bodenarbeiten den opulenten Textilmustern orientalischer Brokate, entwickelte die Künstlerin für den Zwehrenturm, einen weitestgehend neutralen, abgeschlossenen Raum, ein klassisch anmutendes mäanderndes Flächenornament aus angeschnittenen Kreissegmenten. Theoretisch unendlich fortsetzbar, vervielfältigt und verschiebt es das optische Zentrum des Raums. Das ursprünglich sichere Raumempfinden löst sich zugunsten einer Öffnung über die existierenden architektonischen Grenzen hinaus auf.
So wichtig wie die situativ bestimmte geometrische Konstruktion ihrer Wand- und Bodenbilder ist Mariella Mosler der Entstehungsprozess ihrer Arbeiten. Der offensichtliche Arbeitsaufwand, der bis zur Fertigstellung eines ihrer Sandreliefs notwendig ist, provoziert immer wieder Kommentare zu scheinbaren „ Verschwendung von Zeit“, erzählt die Künstlerin. Eine nach der Logik eines Systems, das ganz ungezwungen von „kulturellem Kapital“ spricht, folgerichtige Reaktion. Daß sich die ästhetisch so befriedigenden Arbeiten einer direkten Konsumption widersetzen, scheint als störender Widerspruch empfunden zu werden.
Um so mehr, als die romantische Vorstellung vom Künstler als Genie, das ordnend Chaos in Schönheit verwandelt, vordergründig durch die Ornamentteppiche Mariella Moslers bestätigt wird. Allein, das gewählte Material stellt diesen Anspruch sofort in Frage, denn die Ordnung kann nur in einem geschützten Raum bestehen bleiben, bedarf also des institutionellen Rahmens zur Sicherung seiner materiellen Existenz. Metapher für die paradoxe Rolle in kapitalistisch geprägten Gesellschaften, entziehen sich Moslers Entwürfe einer direkten Einspeisung in den Verwertungskreislauf der Ware „Kunst“. Der in Geld ausgedrückte Wert der Ware Arbeitskraft bleibt nicht eintauschbar.
Suzanne Prinz, Kurzführer documenta X, 1997