Man mache mir die Kannibalen nicht schlecht...
Ein Gespräch zwischen Mariella Mosler und Nicole Fritz
NF: Mariella, Du hast in Hamburg von 1985 bis 1993 Philosophie und Freie Kunst studiert. Warum hast Du Dich für diese Kombination entschieden?
MM: Aus einer jugendlichen Naivität, einem Suchen heraus. Gestern habe ich einen Satz bei Henry James gelesen: „Können Sie mir etwas sagen, von dem Sie wirklich glauben, dass es wahr ist?“ Das trifft es ganz gut.
NF: Hast du beides parallel studiert? War das nicht ein Spagat zwischen Praxis und Theorie?
MM. Zunächst habe ich Beides parallel studiert. Dann abwechselnd ein Semester Philosophie und dann wieder ein Semester Kunst. Sich zum Beispiel mit dem Programm des deutschen Idealismus und der deutschen Aufklärung zu beschäftigen und gleichzeitig Kunst zu produzieren war schwer, es schloss sich damals für mich fast aus.
NF: Und wie kam es dazu, dass du dich dem in Surinam geborenen und in den Niederlanden aufgewachsenen Konzeptkünstler Stanley Brouwn anvertraut hast, wie kamst Du in seine Klasse?
MM: Über ein Jahr war ich schon nicht mehr an der Akademie gewesen und hatte mir inzwischen ein Atelier am Ende der Großen Freiheit gemietet. Nach wie vor habe ich mir aber noch die Akademieausstellungen angeschaut. Der Klassenraum von Stanley Brouwn war der Einzige, der mich interessiert hat.
NF: Was genau hat Dir an seiner Klasse gefallen?
Da habe ich Sachen gesehen, die konnte ich nicht einordnen, jenseits der bürokratischen Ordnungssysteme von Postminimalismus, vollkommen überraschend für die Zeit, Bezüge zur Alltagskultur oder auch zur Anthropologie ... das war keine Programmkunst und kein Formalismus, das hat geatmet.
NF: Was ist Dir von Stanley Brouwn noch in Erinnerung? Was hat dich überzeugt in seiner Arbeit? Gab es ein Werk, das Dich vielleicht bis heute sogar prägend war?
MM: „This way Brouwn“ , eine seiner bekanntesten Arbeiten. Leicht, fast beiläufig, wie aus dem Nichts.
Heute gehört ja zu jeder künstlerischen Arbeit dieses konzeptuelle Gerüst, ohne das geht gar nichts mehr. . Da gibt es ein paar Koordinaten, die man auch an der Akademie lehren oder lernen kann. „Konzept“ ist zu einer Art Manier geworden bzw. es gibt eine konzeptuelle Manier, die wird runtergerissen wie ein Rezept. Selbst in der Malerei, wenn nur Katzen zu sehen sind oder weinende Hunde, gibt es einen „konzeptuellen“ Rahmen.
NF: In der Arbeit „This way Brouwn“ hat Stanley Brouwn die Arbeit auf den Betrachter hin erweitert, diesen miteinbezogen. Er hat zufällig ausgewählte Passanten auf den Straßen von Amsterdam gefragt, ob sie ihm den Weg zu einem bestimmten Ziel aufzeichnen könnten. Interessant war, dass er dasselbe Ziel bei unterschiedlichen Menschen abgefragt hat und so ganz subjektive und verschiedene Beschreibungen ein und desselben Weges bekommen hat.
MM: Und diese Zeichnungen, an die Wand gehängt, waren dann die Ausstellung. Mit einem Stempel versehen: Brouwn.
NF: Es ist etwas sehr Einfaches, aber etwas, das Welten erschließt und auch Einblicke in subjektive Wegeführung und Lebensläufe ermöglicht. Wie mental maps.
MM: Die ganze Welt ist darin enthalten. Einerseits folgt die Zeichnung einer scheinbar sehr genauen Anweisung – wie die Wandzeichnungen von Sol LeWitt – andererseits gibt es eine unendliche Zahl von Möglichkeiten, die Anweisung umzusetzen, zu reagieren. Maximale Präzision und maximale Offenheit und Freiheit.
NF: Aber er hat bei „This way Brouwn“ eine empirische Grundlage gehabt. Er war ja gleichzeitig teilhabender Beobachter in der Straße. Er hat die Leute angesprochen und sie damit zum Teil des künstlerischen Werkes gemacht.
MM: Heute ist das ein zeitgemäßer Begriff von Skulptur.
NF: Wie hast du denn das Kunstsystem damals erlebt in den 1990er Jahren? Es gab ja die Traditionen der Konzeptkunst und Minimal Art der 1960er Jahre und auf der anderen Seite gab es ab den 1980ger Jahren auch schon die Neuen Wilden. Hast du diese Richtungen als Pole erlebt? Und vor allem: Wo hast du Dich selber positioniert, was war Dein Standpunkt?
MM: Die Kunstakademie in Hamburg hatte in den 80ger Jahren einen starken konzeptuellen Schwerpunkt. Man hielt die Malerei für fast endgültig tot. Einige Wenige wollten das natürlich nicht glauben. Es gab kaum Figuration oder sie wurde nicht wahrgenommen.
NF: An welcher Werkgruppe hast Du in dieser Zeit gearbeitet? Waren die 5 Schwarzen Kissen eine Deiner ersten skulpturalen Arbeiten?
MM: Damals habe ich mich mit Minimalismus beschäftigt und mit Funktion, Funktionalität. Aber ich wollte keine Kästen sondern Kissen.
NM: Auch wieder Alltag, was Alltägliches.
MM: Vordergründig etwas Alltägliches: Mobiliar, funktionsgebunden. Diese Kissen waren innen und außen mit Neopren bezogen, sie waren pechschwarz und schluckten das Licht. Und sie waren hohl und kurvig und linear geschwungen.
NF: Wie hast du die Kissen bearbeitet? Sind das Ringe?
MM: Das sind eingesetzte Eichenringe. Die Kissen sind alle Hohlkörper und haben funktionale Elemente wie Knöpfe, Falten, Öffnungen Schlitze, usw. da verbinden sich funktionale und dekorative Elemente.
NF: Ein ironischer Bezug auf Minimal und ein spielerischer Umgang mit dem Seriellen?
MM: Für mich war es eine logische Fortsetzung des Minimal, (lacht), ich habe das immer noch als Minimal verstanden, als die notwendige Vervollständigung des Minimal.
NF: Aber nicht nur formal?
MM: Nein, auch eine inhaltliche Erweiterung um das körperliche Moment, das Spiel. Eine Weiterführung mit ornamentalen Variationen, keine funktionale Serialität.
NF: Was waren dann die nächsten Arbeiten? Wie kam das Ornament in Deine Arbeit?
MM: Über die Auseinandersetzung mit der Funktionalität kam ich zum Überflüssigen, zum Zierrat, zum Ornament. Ich habe mit Oberflächen und Imitation gearbeitet, mit Stuckmarmor, Holzdekor, Furnieren, Maserierungen. Richard Artschwager war wichtig für mich. Ich wollte Objekte herstellen, die sich jeder Klassifikation entziehen, die komplett unbenennbar bleiben, in denen sich das Zeichen und das Bezeichnete aufheben wie z.B. in der Arbeit „Gummibälle/Bälle“. Objekte, die keinen Sinn haben.
NF: Hat für Dich auch das Architektonische eine Rolle gespielt?
MM: Die Architektur und der Raum begannen jetzt eine wichtige Rolle zu spielen.
NF: Du hast in Deinem Werk das Ornament thematisierst und damit auch den Aspekt der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung wieder eingebracht zu einer Zeit in der ein rein konzeptuellen Ansatz bestimmend war. Wie hast Du das für Dich gesehen?
MM: Einmal wollte ich der a priori auf Zweckmäßigkeit gerichteten Wahrnehmung entkommen, dann war ich der Meinung, dass Funktion als Rechtfertigung im Sinn von Form follows Function selbst ein Ornament darstellt und kreiert. Ein Beispiel dafür wäre das Centre Pompidou, bei dem ja die ganzen Funktionen nach außen gelegt sind und Dekor, dekorative Aspekte vertreten. Das würden sie übrigens auch ohne ihre Farbigkeit...
NF: So hat auch Markus Brüderlin in Bezug auf das Ornament argumentiert. In seiner Ausstellung Ornament und Abstraktion hat er die Frage gestellt, ob die Abstraktion nicht auch wieder Ornamentfunktion übernimmt, da sie wie dieses als Sinnträger für moralische, soziale Vorstellungen dient. Er hat das nochmal dekonstruiert, ist es das was du meinst, dass die Behauptung der Moderne selbst schon wieder eine Stilform ist?
MM: Schau doch mal die Nationalgalerie von Mies van der Rohe an: Die architektonische Struktur ist vollkommen überdimensioniert, eine Schauarchitektur, die auf Wirkung hin konzipiert ist. Vor der Argumentation, dass das Gebäude nur den statischen und architektonischen Gesetzmäßigkeiten und Funktionen folgt. Man hätte das ja auch leichter bauen können.
NF: Und das ist fast wieder dekorativ, ein dekorativer monumentaler Stil.
Wie kamst Du darauf, das Ornament wieder in die Kunst einzubringen, daran anzuknüpfen? Oder kam es aus dem Arbeiten mit dem Material Fruchtgummi?
MM: Damals habe ich begonnen, eine ganze Sammlung von Süßigkeiten und Zuckerwerk zu fotografieren: Spiralen, Linien, Rhomben, Quadrate aus schwarzer Lakritze. Blumen, Früchte, Tiere, „Wilde“ ...
NF: Das ist ja schon volkstümlich ...
MM: Genau, in diesen Randprodukten hatten sich symbolische Bedeutungen gehalten. Zum Beispiel die Arbeit „Seepferdchen und Negerkopf“. Gesichter von Afrikanern aus Lakritz.
NF: Die wurden gegessen?
MM: Symbolische Anthropophagie ... man will sich den starken Wilden symbolisch einverleiben. Während die Kolonialherren mimetisch kopiert wurden, was heute als Aneignung – und als ein politischer Akt verstanden wird – man denke an „Les Maitres Fous“. In den 80ger Jahren war der Sarotti-Mohr noch nicht politisch unkorrekt und der Lakritz-Neger war auch in Ordnung.
NF: Bist Du in Bezug auf diese Arbeiten auf dieses politische Moment angesprochen worden? Es gab keine Diskussion darüber damals, oder?
MM: Einigen Kollegen war das Thema der Arbeit bewusst - die weißen, sich fast transzendierenden Seepferdchen und das tiefschwarze Antlitz, wie These und Antithese unauflösbar aneinander gekettet. Der Kopf war im Original nur zwei oder drei Zentimeter groß aber durch die Makrofotografie wirkte das Gesicht in seinem fast individuellen Ausdruck wie ein Porträt, man sah jede Pore.
NF: Du hast das Materielle also zunächst in ein anderes Medium überführt, nämlich in das Medium der Fotografie. Warum die Schmetterlinge in den nächsten Arbeiten?
MM: Mimesis, der mimetische Aspekt der Schmetterlingsflügel, die extreme, magische Schönheit, dieser scheinbar über alle Funktion hinausgehende Aspekt der Schönheit hat mich fasziniert. Roger Callois ist der Meinung, dass das Schmuckbedürfnis seinen Zweck in sich selbst findet und weit über die evolutionären Funktionen der Mimesis wie Tarnung, Reproduktion hinausgeht. Ein Grundbedürfnis. Und dann natürlich die Metamorphose, der Transformationsprozess.
NF: Für die Arbeit „Entwurf für eine Tapete“ hast Du sie linear angeordnet, wieder ein Minimal Bezug ?
MM: Ja, dem Rapport liegt ein Raster zugrunde. Aber alle Schmetterlinge sind individuell verschiedene Exemplare, das unterläuft das industriell-serielle Prinzip und interpretiert Reihung als eine unendliche Variation ohne Prototyp oder als eine evolutionäre Narration.
NF: In den 1990er Jahren waren auch Rosemarie Trockels Arbeiten sehr populär, die Herdbilder, die Strickarbeiten, und eine andere Arbeit, die ich damals gesehen habe, war von Silvie Fleury, die auf einer Bodenarbeit von Carl Andre High Heels platziert hatte. Sie hat also diese Minimal-Geste mit einer Geste weiblich–erotischer Symbolik aus dem Konsumkontext ergänzt und dadurch den künstlerischen Vorläufer auch ironisch kommentiert. Bis heute werden diese Werke im feministischen Kontext gelesen. Hast Du diese Arbeiten wahrgenommen und haben sie für Dich eine Rolle gespielt?
MM: Ich wollte damals einen Raum für mich finden, der nicht von Dogmen bestimmt war. Einen freien Raum. Ich mache Kunst und bin eine Frau und ich bin von meiner Lebenswelt und meinen Interessen ausgegangen. Feminismus war nicht Motivation und Ausgangspunkt meiner Arbeit. Rückblickend fallen die Dinge natürlich wie in einem Puzzle an ihren Platz: Das Unterlaufen der minimalistischen Prinzipien und maskulin konnotierter und besetzter Stilprinzipien und Produktionstechniken. Das Desinteresse an der großen Geste, meine Hinwendung zum Ornament und Integration von Bereichen, die als Kunsthandwerk marginalisiert waren. Die Absage an Hierarchien und konventionelle Wertschöpfung in der Kunst.
NF: Hast Du Dich beispielsweise mit Adolf Loos intensiver beschäftigt?
MM: Es wird ja nur immer die rein rhetorisch glänzende Verdammung des Ornaments zitiert ...
Loos Grundthematik, die durchgreifende Rationalisierung der Gesellschaft unter Beibehaltung einer Sozial-, Gender- und Klassenhygiene - kommt meist gar nicht zur Sprache ... . Mich hat interessiert, woher diese Abwertung der Oberfläche, des Ornaments und der Schönheit ideologisch kommt. Schon in Ciceros Schriften zur Rhetorik und Redekunst werden Wahrheit und Oberfläche gegeneinander ausgespielt. Eine Rede soll gerade und wahr sein, wie ein einfaches Bauermädchen und nicht trügerisch wie die geschminkte Frau aus der Stadt. Wer seine Zuhörer seriös überzeugen will muss mit einer wahren und klaren und nicht einer täuschenden und ausgeschmückten Rede antreten.
NF: Das findet sich ja auch im Klassizismus bei Winckelmann wieder ...
MM: Das ist über zwei Jahrtausende alt und zieht sich dann so durch. Loos präsentiert ja ebenfalls das Negativbeispiel des bemalten Weibes, gepaart mit dem des tätowierten Primitiven, nur ist der Begriff der Wahrheit jetzt durch den des Fortschritts ersetzt.
NF: Und vor allem wurde im Verlauf der Geschichte der Körper zunehmend ausgegrenzt. Du bringst mit Deinen ornamentalen Arbeiten den Körper wieder ins Spiel. Bei Deinen Arbeiten werden die Betrachter auf der kognitiven Ebene aber genauso auf der Ebene der körperlich-sinnlichen Wahrnehmung involviert.
Das hast Du in einer Zeit in die Kunst eingebracht, als diese sehr vom Diskurs geprägt war. Mitte der 1990er Jahre hast Du beispielsweise in Stuttgart einen Fahrstuhl mit Fruchtgummi ausgekleidet, das hat damals Furore gemacht.
MM: „Kissing Lips“: Ich habe einen kleinen engen Fahrstuhl unter Beibehaltung seiner Funktion mit Kussmündern aus Fruchtgummi ausgekleidet. Es duftete unglaublich intensiv und betörend und die Wände waren weich und kissenartig. Ein fahrendes Boudoir ...
NF: Ein körperlicher und bedrohlicher Raum. Eine starke Wirkung, in Zeiten, in denen alles andere eher nur konzeptuell oder formal war. Du warst eine der Ersten, die das Ornamentale raumgreifend inszeniert hat. Mit Deinem Werk weitest Du Dich schrittweise in den Raum aus, erst die Wände, dann der Boden ... Wie entstand die räumliche Ausweitung der Ornamente auf den Boden?
MM: 1992 bin ich eingeladen worden zu einer Ausstellung im Künstlerhaus Hamburg. Dort wollte ich das Ornament körperlich und räumlich erfahrbar machen und gleichzeitig den Raum ornamental strukturieren. Das Ornament habe ich so konzipiert, dass es begehbar war und in der Komposition freie Flächen dafür angelegt.
NF: Für den Betrachter, der sich da durch bewegt hat, war es ein sehr räumliches und auch ein körperliches Erleben. Man musste sich orientieren und durch die Architektur bewegen, bis man das Ornament und den Raum ganz erfasst hatte.
MM: Und die Bewegung der Besucher im Raum hinterließ Spuren, so entstand ein zweites Ornament.
NF: Da ist der Betrachter Teil der Arbeit, wo wir dann wieder bei Stanley Brouwn wären ... . Es gibt aber auch viele Deiner Bodenarbeiten, die man nicht betreten kann, z.B. Deine Sandinstallation auf der documenta X, die sich mit dem Raum komplett zu einer skulpturalen Einheit verbunden hat.
MM: Der Entwurf ist von mir speziell für diesen ja quadratischen Raum konzipiert worden, ich habe ein klassisches Mäander in eine Kreisornamentik integriert, der Kreisdurchmesser ist auf das Raummaß abgestimmt ... ebenso Abstände und Anzahl der Linien ...
NF: Hat dich der kulturelle Kontext Deiner verschiedenen Ornamente beschäftigt oder hast du diese als eine Art Bricolage aus verschiedenen Kulturen erstellt? Wo haben diese Formen ihren Ursprung? Sind sie verändert und bereinigt und sind sie künstlerisch transformiert?
MM: Für meine Arbeit verzichte ich auf alle symbolischen Elemente, ich verstehe die Ornamente als ein abstraktes Liniengefüge. Für Ornamente ist spezifisch, dass sie selten einen klar definierten kulturellen Ursprung haben oder dieser nicht mehr auszumachen ist und ohne Autoren sind sie öffentliches Eigentum und werden kontinuierlich verändert. Sie tauchen zur gleichen Zeit an verschiedenen weit entfernten Orten auf und wandern von Kontinent zu Kontinent. Ich verwende/sample Bruchstücke aus den unterschiedlichsten Kontexten und historischen Zusammenhängen.
NF: Du möchtest Deine Ornamente nicht in erster Linie als eine Erinnerungsarbeit verstanden wissen?
MM: Nein, keine Erinnerungsarbeit. Erinnerung, ja darum geht es, um das Auslösen eines subjektiven und persönlichen Erinnerungsprozesses. Um Erinnerungsbilder. Meine Bodenarbeiten bleiben im Gedächtnis.
NF: Ja, bei dem Versuch, die Einzelteile zu einem ja abstrakten Ganzen zu synthetisieren und bei der damit verbrachte Raum- und Zeiterfahrung, bei der über Reflexion und sinnliche Wahrnehmung Erinnerungsprozesse initialisiert werden, speichert man viel intensiver.
MM: Auf der einen Seite hat man einen intensiven sinnlich-ästhetischen Aspekt über das Material und die perfekte Ausführung aber gleichzeitig ist die Linienführung abstrakt und sehr komplex strukturiert. Wenn man nicht trainiert ist, muss man sich sehr stark bemühen den Linien zu folgen, man muss sich immer wieder neu im Zusammenhang verorten. Das ist ein Prozess. Ein Wahrnehmungs- und gleichzeitig ein Erkenntnisprozess, den man nicht voneinander trennen kann.
NF: Es ist kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl als Auch. Das ist eine große Qualität Deiner Arbeiten, dass diese einen auf den ersten Blick aufgrund ihrer Schönheit und Perfektion anziehen. Gleichzeitig geht es aber auch um etwas ganz Anderes, nämlich auch eine geistige Beschäftigung, man stellt sich die Frage nach den Quellen, wo kommt das her?
MM: Da ist das Unmittelbare, sinnlich Erfahrbare. Und da ist die Inszenierung von etwas Unmittelbarem. Es bedarf einer konzeptuellen Handhabe, um etwas hervorzurufen, was dann aber wieder sehr Ursprünglich ist. /Authentisch ist.
NF: Aber das ist ja auch der Zugang, man könnte es einen konzeptuellen Zugang zum Emotionalen nennen, den Du herstellst.
MM: Darum geht es.
NF:. Deine eigenen Emotionen spielen nicht unmittelbar eine Rolle in Deinem Werk, aber die Arbeit“ I hate you“ aus dem Jahr 2002 könnte man fast als emotional bezeichnen. Nicht, weil sie sich um Deine Befindlichkeiten dreht und diese exponiert, sondern weil sie sehr emotionalisierend auf den Betrachter wirkte. In welcher Beziehung steht diese Arbeit aber zu Deinen ornamentalen Raumarbeiten?
MM: Die Zettel und Briefreste, aus denen die Installation besteht, habe ich alle zufällig irgendwo gefunden. Die Formulierungen oder die Emotionen dahinter erschienen mir derart extrem, teilweise auch so absurd oder komisch, dass ich sie aufbewahrt habe. Mit der Zeit kristallisierten sich Pattern heraus – im Sinne von Verhaltensmustern – Schemata, in denen sich der Individualitätsmythos, die Individualität zunehmend verlor.
NF: Du hast durch die Präsentation, das Blow-Up, etwas vom Privaten in die Öffentlichkeit verschoben. Du hättest auch die Originale präsentieren können. Dieser Übertritt von der Intimität in einen öffentlichen Raum wirkt wie ein Ausbruch. Die Installation I hate you hat gut als Raum funktioniert.
Ein ganz wichtiger Moment Deiner Arbeiten ist: Sie lösen einen Bewusstseinsprozess aus, ob jetzt über Emotionen gesellschaftlicher Art oder im Umgang mit dem Ornament. Das ist vielleicht etwas, was in deiner Arbeit zunächst nicht immer gesehen wird. Es kommt ein Reflexionsprozess in Gang. in welchem Kontext Ornamente verwendet werden. Ganz deutlich ging mir das bei deinen Maskenarbeiten so. Man fragt sich, welche Funktionen haben Masken heute? Aus welchen Materialien bestehen die Masken? Wenn Du zum Beispiel in Asien handgefertigte Schilfkörbe auseinandernimmst und sie wieder in Handarbeit zu Masken zusammensetzt. Da passieren ja ganz komplexe Auseinandersetzungen mit der Maske. Und mit dem Wertesystem. Das Spannende an deinen Arbeiten ist, dass sie auf mehreren Ebenen rezipiert werden können. Man kann sich visuell, auf die Oberfläche Deiner Masken einlassen, sie möglicherweise schön finden, aber auch das Konzeptuelle dahinter und die Fragen, die sie aufwerfen sehen, beides funktioniert.
MM: Das ist mir sehr wichtig. Aber ich mag keine…
NF: Didaktik?
MM: Ja. Man kann als Künstlerin nur ein Angebot machen...
NF: Der Kunsthistoriker Beat Wyss hat im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme „primitiver“ Versatzstücke aus anderen Kulturkreisen durch die westliche Kunst ja den Begriff der Kannibalisierung des „Primitiven“ ins Spiel gebracht. Würdest Du dich als Kannibalin sehen?
MM: Man mache mir die Kannibalen nicht schlecht ...und ich kannibalisiere vor allem meine eigene Kultur ...
NF. Das Hybride ist bei vielen künstlerischen Positionen mittlerweile die gängige Form, aber jetzt viel globaler und vielschichtiger. Nicht nur ein Kulturraum ist heute die Quelle, sondern viele Kulturen.
MM: Mich interessieren die kontinuierlichen Wertverschiebungen: Menschen in Vietnam flechten für ihr Überleben diese Körbe aus Wasserhyazinthen, einem lokalen Unkraut, bei uns werden sie gekauft mit einem Hautgout des verlorenen Paradieses. Überall stehen diese Wurzelschalen rum und symbolisieren Sehnsucht...
NF: Nach dem Authentischen, dem Ursprünglichen
MM: Aber sauber, nicht schmutzig.
NF: Die Sehnsucht nach dem Primitiven. Die hat sich – um die Welt gedacht – noch ein paar Mal potenziert. Zu Beginn des 20. Jh. war es auch das Volkskundliche. Gabriele Münter oder Wassily Kandinsky sind auf der Suche danach aufs Land gezogen.
MM: Als es Volkskunst noch gab. Eine Kultur und Tradition, in der noch wirklich individuell gestaltet und nicht nur maschinell produziert wurde, etwa im Sinne von Arts & Crafts.
NF: Nicht unbedingt. Auch damals war das schon so, die Künstler dachten zwar, mit den Hinterglasbildern oder den Holzfiguren etwas Handgemachtes Traditionelles vor sich zu haben, aber auch die wurden teilweise bereits maschinell hergestellt. Interessant ist, dass gerade die Künstler dieses Moment immer schon idealisiert und etwas darauf projiziert haben, was gar nicht mehr da war.
MM: Afrikanische Masken z.B., nachdem die Eingeborenen vor Ort erkannt hatten, welche Masken beliebt waren, wurden diese umgehend gezielt hergestellt und auf die übliche Bemalung der Masken wurde verzichtet weil diese nicht erwünscht war. Oder die Farbe wurde später in Paris abgeschrubbt. Man wollte keine Farbe, kein Dekor. Nur das Pure und Reduzierte war das Wahre. Selbst die „Primitiven“ waren in ihrer eigenen Produktion nicht pur und primitiv genug. Die gereinigte Maske wurde anschließend von Picassos Galeristen Ambroise Vollard in Bronze gegossen, als Edition aufgelegt und in den westlichen Kunstkanon integriert. Für die Produzenten hatte diese Maske natürlich außerhalb ihrer kulturgebundenen Praxis und traditionellen Einbindung überhaupt keinen kultischen Wert.
NF: Aber das zeigt doch, dass sich Deine Arbeiten genau um diese Fragen drehen und dass sie auch immer diese Frage stellen.
MM: Phantomschmerz ? Ich bin ja Teil dieser Kultur. Aber das Authentische findet sich nur noch im Augenblick. Also jetzt gerade, wie wir hier sitzen, das ist authentisch.