Margareta Friesen
Schichtungen, Verflechtungen, Überlagerungen
Über Mariella Mosler

Künstler Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst
Ausgabe 66 Heft 11 2. Quartal 2004

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Man könnte versucht sein, sich vorzustellen, daß die Sandstreuarbeiten von Mariella Mosler (Cover, Abb. 5 + 10, ) oder die Wandarbeiten aus Fruchtgummi (Abb. 1, 7, 12) die sichtbaren Teile eines die Welt umspannenden Ornaments sind, ein geometrisches oder florales „ornamentales Pattern“ (Mosler), das mit seiner wunderbaren ordnenden Symmetrie nur ausschnittweise vor unseren Augen liegt. Und könnten nicht auch die kristallinen, kleinteiligen Haarformen (Abb. 6) Muster eines um die Erde gesponnenen Netzes sein? Oder die begehbaren Rauminstallationen aus Quarzsand (Abb. 2) oder aus glitzernden Lametta-Vorhängen wie in ihrer neuesten Arbeit in der Kunsthalle Göppingen (Abb. 13), könnten sie nicht sichtbarer Abschnitt eines unendlichen Labyrinths sein? Und wenn man so weit gehen wollte, sich dieses ornamentale, alles umspannende Netzwerk auszumalen, liegt dann nicht der Gedanke nahe, die Gesamtheit aller Erscheinungen, auch Sprachen und Gesellschaftsformen, als ein dem Ornament verwandtes und analoges System zu begreifen? „Was für die Evolution der Gesellschaft die Evolution von Sprache bedeutet hatte, ist für die Evolution des Kunstsystems die Evolution des Ornamentalen.“ sagt Niklas Luhmann. Und Mariella Mosler: „Generell steht für mich die Struktur von Ornamenten wie z. B. bestimmte Wellenbänder oder Knoten über bestimmte kulturelle Fertigkeiten und Techniken wie Weben und Flechten in einem starken Zusammenhang mit Sprache, unterschiedlichen sprachlichen Strukturen, verschiedenen grammatikalischen oder zeitlichen Ordnungssystemen, die sich überlagern, miteinander verwoben sind oder sich wechselnd hierarchisch zueinander verhalten können.“ Hierher gehört ihre mit „I hate you“ betitelte Arbeit (Abb. 9), die sich aus an vielen Orten gefundenen, anonymen Notizen konstituiert. Mosler kopierte die Fundstücke auf lange Papierbahnen und hängte sie in der Overbeck Gesellschaft in Lübeck Tapeten gleich und Wand füllend auf. In diesen schriftlichen Zeugnissen äußern sich Gefühle wie Liebe, Sehnsucht, Haß, aber auch Heilsversprechen: „Komm zu Jesus“, Sorgen um Arbeit und Geld. Achtet man nur auf das in ihnen Mitgeteilte, gleichen sie einem unendlichen Rapport eines Denk- und Sprachmusters.
Das Streben und Sehnen nach der einen Erklärung, nach dem alles beschreibenden Grundmuster, ist groß und tief in der Kultur verankert. Das zeigt sich nicht zuletzt in den Schöpfungsmythen aller Völker. Die moderne Physik lehrt uns jedoch, daß es ein grundlegendes Muster, eine „perfekte Symmetrie“ hinter der Materie und hinter der Energie nicht gibt. Sie beweist uns, daß die subatomare Welt von einer ihr selbst innewohnenden Unbestimmtheit beherrscht wird. Folglich bliebe nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß die Regellosigkeit die Welt beherrscht. Dennoch versuchen die Wissenschaften auf allen Gebieten, Gesetze in der Wahrscheinlichkeit zu erkennen. Die „ornamentalen Pattern“, die Mariella Mosler in ihren Arbeiten verwendet, spielen mit diesem ambivalenten Geisteszustand, dem ordnenden Denken, das symmetrisch ist und jeglicher Spontaneität ein Netz überzustülpen versucht, und dem Polymerketten in chemischen Verbindungen begeistern wie für Schichtungen, Verflechtungen, Verknotungen und Strukturen naturwissenschaftlicher, historischer oder soziologischer Natur. Mosler: „Im Ornament liegt mehr Potenz als nur eine Leerstelle zu besetzen, oder als so etwas wie ein Korrekturprinzip zum jeweils Klassischen zu fungieren. Daraus folgt für mich auch, daß ich in meinem Umgang mit Ornament auch sehr unterschiedliche Aspekte einsetze. Ich habe zunächst klassische oder historische Ornamente verwendet, die Formen werden jetzt aber zunehmend freier. Zur Zeit befasse ich mich mit Knotenornamenten, damit habe ich mich vom klassischen Ornament schon sehr weit entfernt. Hier befruchten sich meine Haararbeiten und die Sandornamente gegenseitig. Die Haargeflechte greifen wieder dezidierter auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, auf die Konnotation von Ornament mit primitiver Kultur und Weiblichkeit zum Beispiel. In meinen neueren Arbeiten spielen psychologische Aspekte eine sehr wichtige Rolle. Eine bestimmte Art von verallgemeinerter Psychologie ist heute ja – ohne reflektiert zu werden – fast zu einem Sprachornament geworden. Ornamentale Pattern, die ich aufzugreifen versuche.“
Die von Mosler auf Zeit angelegten Ornamente sind ohne subjektive Ausprägung und hochgradig ästhetische Installationen, die jedes Mal sorgfältig vorbereitet und wie Modelle von molekularen oder kristallinen Urformen angelegt sind. Man kann in den floral-naturalistischen oder geometrisch-abstrakten Ornamentarbeiten Symbole für die Suche nach Symmetrie, das Streben nach dem die Welt erklärenden Muster und zugleich auch für das Gefangensein in solchen fragwürdig erscheinenden und fragil wirkenden Systemen sehen. Ihre Vielschichtigkeit provoziert geradezu, Bedeutungszusammenhänge in alle Richtungen herzustellen. Muster nennen wir beispielsweise die Zeichnung auf einer Tapete oder einem keramischen Gebrauchsgegenstand. In Grimms Wörterbuch heißt es „...die Meiszner teller mit dem häszlichen Zwiebelmuster“. Im übertragenen Sinne meint Muster aber auch Vorbild und gutes Beispiel. Die Platoniker gehen davon aus, daß die Muster – Formen, Zahlen, Symmetrien, Vorstellungen – vor allem anderen da sind. Sie existieren unabhängig in einem Reich der reinen Ideen. Die materielle Welt ist nur ihr Schatten. Ornamente gründen sich auf Muster. Sie sind Verzierungsmotive, die sich aus einer ihnen innewohnenden Logik von Form und Fläche entwickeln, und sie unterliegen der Mode und dem Geschmack. Am Anfang des 20. Jahrhundert wandeln sie sich gar zum „Verbrechen“. Mosler: „In der westlichen Tradition stand das Ornament immer im Widerspruch zu den jeweils herrschenden Idealen von Schönheit und Moral. Es verkörperte ihr Gegenteil – alles, was überflüssig und unnötig ist, hedonistisch und verführerisch, eine Scheinhaftigkeit, die mit der Suche nach absoluter Gewissheit nichts gemein hat, wie sie die westliche Philosophie verfolgt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Ornament verdammt als eine Form von Energieverschwendung innerhalb der Rationalisierung von Zeit im Arbeitsprozeß. Es war Projektionsfläche für niedere Instinkte und Triebwünsche.“
Spiel und Ironie
Mariella Mosler, die 1962 in Oldenburg geboren wurde, hat 1985 bis 1992 in Hamburg an der Universität Philosophie und zeitgleich an der Kunstakademie Kunst studiert. Sie war u. a. Schülerin des niederländischen Fluxus/Konzept-Art Künstlers Stanley Brouwn, der sich Abbildungen seiner Arbeiten und biografische, persönliche Angaben verbittet. Ausgangspunkt seines Werkes sind das Gehen und die unmittelbaren Erfahrungen des täglichen Lebens; an ihm hat sie „die Haltung beeindruckt, die er konsequent beibehält.“ Und: „Ich schätze auch seine konzeptuelle Position, verbunden mit einer großen formalen Strenge und extremer Auslese in der Produktion.“ 1987 tritt sie mit Fotoarbeiten erstmals im öffentlichen Raum auf. Versucht man nun, ihre Entwicklung nachzuzeichnen, stößt man zunächst auf den Begriff „Funktionalismus“: „Ich habe mich damals (Ende der achtziger Jahre) mit dem Funktionalismus beschäftigt und dessen sehr engem Formenvokabular.“ Der Funktionalismus stand als Theorie in der Baukunst dafür, daß dem Ideal der Übereinstimmung von Funktion und Form, von Gestalt und Aufgabe, möglichst nahe zu kommen war. Seit spätestens Anfang der achtziger Jahre wurde er heftigst diskutiert und kritisiert. Die stereotype Bauweise, die Ausbreitung formaler Langeweile und die gefühlslose Ödnis ganzer Städte erschütterten das Ideal reiner Zweckerfüllung. Ornament und Farbe wurden nicht länger verleugnet und die postmoderne Buntheit und Nicht-Einförmigkeit hielten Einzug in die Architektur. Man ging spielerisch und mit Ironie ans Werk. Mariella Mosler sagt von sich: „Letztlich begann die Beschäftigung mit Ornament Ende der 80er Jahre, als die Beschäftigung mit Funktionalität im Vordergrund künstlerischer Diskurse stand und man versuchte, die ästhetische Praxis in den öffentlichen Raum auszuweiten. Und aus dieser Auseinandersetzung mit Funktion und Architektur habe ich mich dann zunehmend mit dem von der Moderne Verdrängten befasst, also mit dem Ornament und dem sogenannten „Überflüssigen“, dem Dekor.“ In der Folge widmet sie sich dem Studium der Tradition der Ornamente und ihren vielgestaltigen Ausprägungen in unterschiedlichen Kulturen. Von den antiken über die islamischen Arabesken bis hin zu der barocken Ornamentik und den Musterbüchern des 19. Jahrhunderts untersuchte sie deren Entstehung und Verwendung.
Das Werk „Fünf schwarze Kissen“ von 1989 legt erstes Zeugnis von dem Nachdenken über Form, Funktion und Dekor ab. Gerade das Kissen eignet sich in besonderer Weise für diese Überlegungen, ist es doch gleichsam von alters her in Funktion und Form klar definiert und als Spielfeld ausgiebigster Ornamentkunst, meist in Gestalt von Stickereien und Webmustern von zahllosen Frauen-Generationen genutzt worden, um sich „ornamental“ auszutoben. Mariella Mosler hat schwarz bezogene Gummistoffe auf unterschiedliche Art zu rechteckigen Kissen gefaltet und diese mit Knöpfen und Nieten geschmückt. Faltenstege und Hohlräume werden dabei auf eigenartige Weise thematisiert und erotisiert. Auf einem Regal fein säuberlich wie schöne edle Gegenstände aufgereiht präsentieren sie sich als völlig funktionslose Schauobjekte. Es sind keine Kissen mehr, sondern mit Bezügen aufgeladene Objekte. Diese Arbeit zeigt bereits im Ansatz alle Aspekte der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem „ornamentalen Pattern“, die fortan in allen Werken präsent sind. Da ist zum einen das Spiel mit Konnotationen auf der sprachlichen Ebene in Verbindung mit verschiedenen Redensarten und den dazu gehörenden Sprichwörtern: Gummi, Haar, Sand. Auf der formalen Ebene ist es die Tradition der Ornamentik, die die Künstlerin in ihrem Werk zu ergründen beginnt und unbeirrt stärker einsetzen wird. Die in den folgenden Werken hierbei verwendeten Verzierungsmotive reichen vom Knotenornament Albrecht Dürers bis zu den floralen Mustern wie man sie in türkischen Wanddekorationen ab dem 16. Jahrhundert findet. Auf der Ebene der Repräsentation tritt die Metamorphose ein, das „Material“ wandelt sich zum Kunstgegenstand. In den Rauminstallationen aus Sand, den Wandarbeiten aus eßbarem Fruchtgummi oder aus Spiegeln und natürlich in den Haarobjekten spielt die Künstlerin fortgesetzt mit mythologischen, historischen, kunsthistorischen und gesellschaftlichen Gedankenverbindungen. In der Folge entstehen Arbeiten, die reiche Assoziationsmöglichkeiten heraufbeschwören und Gedanken verbindende, emotionale und wertende beziehungsweise abwertende Begleitvorstellungen auslösen. Ein weiterer Aspekt wird allmählich wichtig: der Betrachter soll sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht länger als außerhalb des Werkes aufhalten, sondern sich mittendrin bewegen.
Die flüchtige Spur
Mariella Mosler fertigt ihre Rauminstallationen nicht mit dem natürlich vorkommenden Material Sand an, vielmehr benutzt sie einen industriell gereinigten und fein gemahlenen Quarzsand. Das kristalline Flechtbandornament im Zwehrenturm auf der documenta X (Abb. 5), das sie mit diesem Sand gelegt hatte, durfte nicht betreten werden und war nur von der Schwelle aus zu betrachten. Es forderte dennoch auf, ja es zwang dazu, es mit den Augen in jeder Wendung seiner Stege zu verfolgen. Stege, die je nach Lichteinfall, spitzer und plastischer oder weicher und flächiger wirkten. Die begrenzten Dimensionen des Raumes mit seinen Ecken, Fensternischen und zwei Heizkörpern wurden durch das Ornament des aufgeschütteten Sandes gesprengt. Das Flechtband, das sich auf- und übereinander legte, wirkte im Raum wie ein Ausschnitt innerhalb eines weltumspannenden Netzes. So nahm man nicht allein das durch die Wände begrenzte Kunstwerk wahr, sondern wanderte gleichsam mit den inneren Augen weit darüber hinaus. Die Situation eines Raums in allen seinen Eigenheiten ist mithin allemal nur der Ausgangspunkt, an dem das Ornament manifest wird. Im Kapellenraum des Jesuitenkollegiums in Graz ist die Barockdecke mit einem naturalistisch-floralen Ornament geschmückt, in dessen Zenit im Kranz der Strahlen das Monogramm des Ordens prangt: IHS. Gerade die Deckenbemalungen des Barock führen in ihrer repräsentativen Opulenz jenen Himmel vor, der neben Jenseitsvorstellungen auch Macht demonstriert. Mosler begegnet dem mit einem ausgesucht schönen und strengen Liniengeflecht, das keiner Vergoldung bedarf, um ebenso kostbar und „himmlisch“ zu wirken wie die barocken Verzierungen (Cover). Woran liegt das? Wohnt dem Ornament ein Sinngehalt inne? Die Arabeske ist behaftet mit der Symbolik für Kosmos, Unendlichkeit, All-Zusammenhang, Ordnungsprinzipien und unsichtbaren Naturgesetzen. Sie transportiert in ihrer formalen Struktur positive Inhalte. Ideengeschichtlich ist das Ornament mit der Versinnbildlichung von Paradiesvorstellungen, entindividualisierter Geistigkeit und archetypischen Bewußtseinsinhalten verbunden. Es ist das Ergebnis höchst komplizierter mathematischer Formeln, die auf das verweisen, was nicht zu begreifen und nicht zu schauen ist. Mariella Moslers Rauminstallationen sind genauestens konzipiert und berechnet, deutlich lässt sich dies am Plan für den Kuppelsaal des Württembergischen Kunstvereins im Schloß Solitude in Stuttgart ablesen (Abb. 4). Einen Raum, eine Decke, eine Wand vermittels einer auf sie zugeschnittenen ornamentalen Installation zu betonen und sichtbar zu machen und sie zugleich zu sprengen und über sie hinauszugehen, ist wesentlicher Teil all ihrer Streusandarbeiten. Sie geht jedes Mal von dem bestimmten, einmaligen Ort aus, um ihn dann mit dem auf ihn zugeschnittenen Ornament zu „sprengen“. Im Württembergischen Kunstverein greift sie die Form des strengen Zwölfecks der überwölbenden Saalkuppel auf und überträgt es in die Rotationssymmetrie kurviger, schweifender und kreisender Rosetten; in Graz setzt sie dem reichen floralen Deckenschmuck das strenge tektonisch-geometrische Verzierungsmotiv entgegen. Das, was es hervorruft ist eine sensomotorische Spur, eine Bewegung der Augen und damit eine Bewegung des Kopfes und des Oberkörpers und schließlich des Körpers selbst, wie bei der Sandstreuarbeit im Württembergischen Kunstverein. Dort waren zwischen den Rosetten freie Sandflächen, die von den Besuchern umkreist werden konnten. Er wiederholte buchstäblich mit Augen und Füssen die in ihnen eingeschriebene Bewegung; er ist wortwörtlich im Kunstwerk und Teil des Sandes. In der Poesie dieses Augenblicks könnte man eine Parallele ziehen zu den vorislamischen Dichtern im frühen 7. Jahrhundert, die allesamt Nomaden waren, und den Anblick des verlassenen Lagers der Geliebten in ihren Qasiden genannten Gedichten gebrauchten. Traurig besingen sie die ferne Geliebte, die mit ihrem Stamm zu neuen Weiden aufgebrochen ist, und beschreiben den Blick auf das verlassene Lager in der endlosen Weite der Wüste: „der nordwind und der süd hatten ihr breites tuch bereits gewebt/ und damit die spuren des lagers halb verwischt/ der rest wurde zugedeckt vom sand“ oder „die spuren des lagers von Hawlah auf der kieswüste von Tahmad waren wie tätowierungen am rücken einer hand“ Auch dieses Bild ist wie eine Arabeske, die profaniert in der modernen Schlagermusik wiederkehrt.
Das spätere Zusammenfegen des Moslerischen Sandkunstwerks bringt den Aspekt der Vergänglichkeit in die Arbeit und widerspricht dem wirkungsvoll aufgeschütteten Sand gründlich. Mit dem zerstörten Werk ist wieder alles offen. Beides gehört zusammen, das kunstvoll gestreute Ornament und sein Verschwinden durch banales Zusammenkehren. Im Aufeinandertreffen dieser beiden Fakten erschließt sich das Werk, gleichwohl dokumentiert Mosler den Zerstörungsakt nicht. Sie thematisiert ihn auch nicht durch eine wie auch immer geartete künstlerische Aktion. Sie ist schlicht dem Werk immanent, in der Instabilität von Sand bereits sichtbar präsent. „In den Sand-Arbeiten habe ich versucht, auf einer abstrakten Ebene mit Zeit umzugehen. In dem Sinne, daß die Arbeiten mit einem sehr großen Zeitaufwand verbunden sind, daß sie sehr empfindlich sind und sehr schnell wieder zerstört werden können. Im Verhältnis zu unserer sonstigen Ökonomie erscheint uns so ein Unternehmen wie Zeitverschwendung.“
„... dein goldenes Haar Margarete...“
Dieses Bild aus Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ assoziiert Unaussprechliches, das unweigerlich in die Wahrnehmung der Haarobjekte von Mariella Mosler mit einfließt. Wenn menschliches Haar heute verarbeitet wird, denkt man nicht an Memorialschmuck, wie er im Zusammenhang mit Porträtminiaturen vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oft gebraucht wurde. Damals fertigte man Colliers aus dem Haar einer Person an, sei es dem eines Familienmitglieds oder eines geliebten Menschen, um daran dessen gemaltes kleines Porträt in einem Medaillon zu tragen. Manchmal waren auf den Rückseiten dieser feingezeichneten Miniaturen Initialen oder andere kunstvolle Muster aus Haar angebracht. Die aus menschlichem Haar gefertigten Objekte hat Mariella Mosler wie schwebende Schmuckstücke in Augenhöhe an der Wand angebracht (Abb. 6). Es ist durch die handwerklich perfekte Häkel- oder Klöppelarbeit kostbar veredelt. „Mit dem Material Haar verwende ich eine Substanz, die eine enge Verbindung zum menschlichen Körper und zu der physischen Erfahrung von Zeit hat. Erstens wächst menschliches Haar nur etwa einen Zentimeter im Monat, es hat also eine direkte Verbindung zu unserem biologischen Rhythmus. Zweitens hat das Haar in allen Kulturen eine Sonderstellung. Solange es auf dem Kopf ist, gilt es als Zeichen oder Symbol für Lebenskraft und sexuelle Energie – früher allgemein ein Zeichen für Adel und Macht, später ein Wahrzeichen von Individualismus und Rebellion. In allen Kulturen, von der Antike bis heute, spielt das Haar in Unterwerfungs- oder Strafaktionen eine Rolle – man schneidet es ab, man rasiert den Kopf. Und in allen Kulturen, im Westen ebenso wie in Japan, ist das Haar ein Symbol für Lebenskraft, solange es auf dem Kopf ist. Wenn es abgeschnitten wird, wendet sich die Bedeutung ins Gegenteil. Es ist ein Teil des Körpers, den man abschneiden kann, der wieder nachwächst. Abgeschnittene Haare wurden für schamanistische Rituale benutzt, für Hexerei, für fast alles, für Gutes und für Böses – es ist ein Tabu.“ Das Haar, das die Künstlerin einsetzt, ist zunächst als „Abfallprodukt“ in indischen Tempeln angefallen. Im Hinduismus und im Buddhismus ist das Abrasieren des Kopfhaares Symbol für das Entsagen und das Hinter–sich-lassen aller weltlichen Dinge. Von Indien gelangt das Haar über Zwischenhändler viele tausend Kilometer weit in chinesische Fabriken, wo es gereinigt, gefärbt, für die Herstellung von Perücken und den Verkauf im westlichen Ausland vorbereitet wird. Mosler verwendet verschieden farbiges Haar, das überhaupt keine persönlichen oder individuellen Merkmale mehr besitzt. Ohne eine Beziehung zu Menschen herzustellen, kann man es dennoch nicht ansehen, im Gegenteil die Haarobjekte laden sich mit den Emotionen des Betrachters auf und werden zum Kristallisationspunkt für die widersprüchlichsten Gefühle, um so mehr als sie in ihrer filigranen Schönheit sehr verführerisch sind. Trotz der völligen Anonymität verbinden wir das Haar mit lebenden Menschen und mit der Lebenszeit, die es gebraucht hat um zu wachsen.
Was über das Haar gesagt werden kann, kann auch von den menschlichen Zähnen gesagt werden: auch sie sind Symbol für Jugend und Lebenskraft, Potenz, Gesundheit und sogar für neues Leben. Auch an ihnen spiegeln sich Kraft und Kräfteverfall, Wachstum und Sterben. Mariella Mosler verwendete im Schloßhof Fürstenau etwa dreifach vergrößerte, in Formgips gegossene menschliche Backenzähne, die sie im und um einen Brunnen ausgestreut hat. Dabei säte sie sie in der Form eines Korbbogens aus und spielte damit auf die Gegebenheiten vor Ort an. Der „Faktor“ Zeit wird hier von ihr anders eingesetzt als bei den Haarobjekten, die erhalten bleiben. Die Vergänglichkeit spiegelte sich im allmählichen Auflösen und gänzlichen Verschwinden der Gipszähne. Im Zusammenhang mit dieser Installation hat Mariella Mosler auf die Metamorphosen des Ovid und auf jene Verwandlung der Drachenzähne hingewiesen, die Cadmus ausgesät hat, und aus denen Krieger der Erde entsprossen sind. Kettenreaktionen von Assoziationen sind erwünscht!
Ein System, das auf Ordnung basiert
Seit dem Beginn der Mechanisierung der Produktion von Gebrauchsgütern im 19. Jahrhundert, die in großen Mengen kostengünstig hergestellt und preisgünstig erworben werden sollten, reißt die Auseinandersetzung um die Qualität dieser Gegenstände für den täglichen Gebrauch nicht ab. Massenproduktion ist scheinbar ohne hohen Qualitätsverlust nicht möglich. Die Folge - und das gilt bis heute - ist ein schier unübersehbarer Ozean von Gebrauchsgütern mit minderer Qualität und schlechtem bis unerträglichem Design, die Schattenseite unserer im Überfluss ersaufenden ach so herrlichen Warenwelt. Heute gehören dazu auch Fruchtgummis, die sich offenbar am besten verkaufen, wenn sie wie Plastikspielzeug geformt und bunt gefärbt sind. Da gibt es die Formen der unterschiedlichsten Früchte und Tiere, aber auch die Form der aufgeworfenen Lippen, des Kussmundes. Der klebrig-süße Grundstoff eignet sich hervorragend für solche Gußformen. Mariella Mosler verwendet sie für ihre großflächigen Wandornamente (Abb. 1) Sie erinnern an die Dekore türkischer Fliesen in Istanbuler Paläste des 16. Jahrhunderts im «Quatre-Fleurs-Stil“ . Das betrifft allerdings allein die Ebene des Augenschmauses und kann vor allem in der von der Wand entfernten Sicht „genossen“ werden. Geht man näher heran und schaut genauer hin, sieht man erst, daß es sich um essbare, genussfähige Fruchtgummis handelt. So verblüfft uns die Künstlerin, lädt uns aber nicht zum Ablutschen der Wände ein „Ist es latent anstößig, auf diese Art mit Essbarem zu verfahren, wird es im Entzug durch Kunst zum Schein ins Schöne transformiert, und bleibt doch dem Begehren greifbar nah.“

Spiegelnde Oberflächen
Als Ornament gilt das einzelne Motiv einer Verzierung, die sich gänzlich dem Gegenstand unterordnet. Es hat die Tendenz, sich auf alle Werke der gleichen Zeit im gleichen Kulturbereich auszudehnen, obwohl es ursprünglich nur für eine bestimmte Kunstgattung gedacht war. Eugène Emanuel Viollet-le-Duc (1814 – 1879) französischer Architekt und Denkmalpfleger erwies sich nicht nur als allseitig gebildeter und universell tätiger Baumeister, er hatte auch großes Interesse am mittelalterlichen europäischen und am islamischen Bauschmuck. Nach ihm benennt Mariella Mosler 2002 in der Kunsthalle Hamburg ihre Installation: „Viollet“. Sie befestigt 48 Kristallspiegel, je 80 x 60 cm auf zwei Wandflächen, die sich versetzt gegenüber liegen und deren Ausmaße 2,40 x 6 m sowie 2,40 x 3,60 m betragen. Blattaluminium formt aus zwei sich überlagernden Ebenen eines quadratischen Rasters, das diagonal zur oberen und unteren Wandbegrenzung angelegt ist. Ein verwirrende geometrische Überlagerung ist entstanden (Abb. 11), die an die „Rautenkomposition“ von Piet Mondrian aus dem Jahr 1918 erinnert. Durch die stumpfen, nicht spiegelnden aufgeklebten Aluminiumstreifen fällt die Spiegelungsfläche unterschiedlich aus oder ganz weg. Der Raum erweitert sich nicht, er verengt sich, er implodiert. Die 8 x 8 m große Sandarbeit in Form großer sich überlagernder Ellipsen im angrenzenden Raum hingegen wirkt dynamisch und explosiv. In der Installation „iris wall“ (Abb. 13) hat sich der Spiegel selbst gleichsam in Streifen aus Lametta aufgelöst und gibt nur noch splitterhaft und streiflichtartig sein Umfeld wieder.
Das Ornament, wie es Mariella Mosler in ihrem künstlerischen Werk einsetzt, ist eine bildkünstlerische Strategie. Scheinbar geordnet und dennoch unüberschaubar, endlos sich selbst fortsetzend und –pflanzend wird es zu einer transzendentalen Zeichensprache.

Die Autorin ist Kunstvermittlerin sowie Galeristin; sie lebt in Dresden.