Karsten Müller
Maskeraden
Mariella Moslers Volapük

… ein Gesicht aus gehämmertem Gold, das eher dem Reich zeremonieller Masken als dem individueller Menschengesichter ange-hörte, und dennoch war es ein Gesicht, das er erkannte.
Thomas Pynchon, Gegen den Tag

Download Text als PDF (77KB)

Halloween und Stammeskunst, Mutantencomics und Der Schrei von Munch, Ethnofolklore und Horrorfilme: Die rund 100 Arbeiten umfassende Werkgruppe Masken, an der Mariella Mosler seit 2006 arbeitet, öffnet ein weites Assoziationsfeld zwischen Kult und Kulturindustrie, Karneval und Kunstgeschichte. Einschnitte, Kerben und Brandlöcher verwandeln Moslers Hohlformen in markante Physiognomien – und provozieren unseren animistischen Reflex: Das Unbelebte belebt sich, offenbart Schrecken, Erstaunen, Zaudern oder Aggression, gibt sich rührend niedlich oder lauernd und verschlagen. Jede Maske entfaltet ihre eigene, ganz unmittelbare Wirkung. Nimmst du sie wahr, nimmt sie dich ein.

Vom gemeinsamen Nenner „Maske“ ausgehend, treibt Mosler ihre Objekte durch Material, Form und Bearbeitungsweise in unterschiedlichste Richtungen, bis an den Rand der Zusammengehörigkeit. Etliche Masken sind aus Verpackungsmüll, besonders solchem, der beim Transport von Kunstwerken anfällt: Schaumstoff, Kistenholz, Luftpolsterfolie, Kartonage. Neben kompakten Rechteckformen, Halbkugeln und Ovalen formt Mosler daraus fächerartig ausgreifende und dicht geknotete Gebilde, glatte oder geriffelte, runzelige oder haarige Objekte. Zwar sind die meisten Grundstoffe Allerweltsmaterialien und Abfallprodukte, doch können sie ungewohnt veredelt sein – wie das Restholz mit einem Überzug aus Blattgold. Als hybride Kreationen anderer Art erweisen sich Moslers lackierte Bronze-Masken, Werke, in denen das Ewigkeitsmaterial der Hochkultur auf Trenddesigns der Popkultur trifft: Das Metall maskiert sich mit einer Airbrush-Optik, wie man sie in Biker- und Tätowiererkreisen schätzt.

In Moslers Masken verbinden sich Strategien der Verschiebung und Verkehrung mit Mimikry-Manövern. Was authentisch scheint, erweist sich als Fake: Bronze gibt sich als Wellpappe und Plastikfolie aus oder imitiert Flechtwerk aus Holzspänen. Eine grünlichblaue Patina kann diese Täuschung aufheben, aber nicht, ohne sie durch eine andere zu ersetzen: Jüngst entstandenen Zwitterobjekten verleiht die Patinierung den Anschein kostbarer Antiquitäten. Erlesen und prächtig wirken zahlreiche Masken, doch sprengt Mosler den Rahmen des Kunstvollen durch grobe, betont nachlässige Gestaltungsvarianten. Ihren Masken aus Schaumstoff etwa sind die Zeichen der Unverwechselbarkeit mit dem Feuerzeug eingebrannt.

Die Spannung zwischen Identität und Differenz charakterisiert Moslers Werkgruppe auf unterschiedlichen Ebenen. Ihre Masken durchmessen den Weg von der Aura des Kultobjekts zum billigen Gruseleffekt, vom Antlitz zur Fratze, vom Plastik zum Edelmetall, vom Gediegenen zum Trash. So kann das universelle, Räume, Zeiten und Kulturkreise übergreifende Phänomen „Maske“ seine schillernden Facetten entfalten: als Fetisch „primitiver“ Kulturen, als Chiffre für das Fremde, Exotische und „Wilde“ in der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte, als machtvolles Symbol für menschliche Affekte und gesellschaftliche Rollenspiele. Als Hohlform ist die Maske frei für vielfältige Sinngebung, und sie bleibt ein faszinierend ambivalentes Requisit. Es kann magische Kräfte besitzen und Verstandesgrenzen überwinden; kann unbestimmten Ängsten und Begehren ein Gesicht geben, Bedrohliches entzaubern und Schrecken bannen; kann wie ein Kokon bergen und wie ein Spiegel offenbaren, täuschen oder die Wahrheit sprechen.

Das Maskentheater von Mariella Mosler betont solche Ambivalenzen und setzt vertraute Werte- und Bedeutungshierarchien außer Kraft. Ihre mehr als 100-teilige Maskentypologie befreit sich aus dem Korsett der Rangordnungen, ohne eine neue Systematik zu behaupten. Mosler strebt nicht nach Klassifizierung, versucht nicht, das Unüberschaubare übersichtlich und einfach zu machen, sondern bekräftigt die Komplexität der Dinge durch eine artifizielle Kunst, die ihre Zutaten aus einem reichen Fundus schöpfen kann. Diese Kunst des Sampling, des Kreuzens, Verschränkens und Überblendens zeigt Mosler im Ernst Barlach Haus Hamburg unter dem Titel Volapük: eine dem Esperanto vergleichbare, im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte Plansprache, deren Wortschatz sich aus Versatzstücken verschiedener europäischer Sprachen speist. Das emphatisch proklamierte Ideal der Völkerverständigung, das die Entstehung und Verbreitung von Volapük einst befeuerte, greift Mosler in der Präsentation ihrer Masken auf – und katapultiert es in unsere globalisierte Gegenwart.

Mosler überführt die Ergebnisse ihrer mehrjährigen Feldforschung zum Thema „Maske“ in eine eigenwillige Raumordnung. Der heterogenen Werkgruppe unterlegt sie ein homogenes Raster aus Silberfolienstreifen, dynamisch wuchernde Masken-Cluster treffen auf strenge Serialität. Die spiegelnde Streifentapete – eine Parodie auf die Wandgestaltungen bürgerlicher Salons – löst die fest gefügte Architektur auf, entgrenzt den Raum, in dem sich die Masken ebenso vervielfachen wie die Betrachter: ein Panoptikum multipler personae und Persönlichkeiten. Zugleich betreibt das Streifenraster durch seinen Spiegelcharakter die eigene Auflösung. Es gewährt nicht länger die Sicherheit der verlässlichen, kalkulierten Wiederholung, sondern wird zum Einfallstor für das Irrationale und Mehrdeutige, für Unsicherheit und Verwirrung.

Durch diese anarchische Dimension ist Moslers Hamburger Masken-Raum der Installation Iris Wall (S. XX–XX) verwandt, einem 2004 für die Kunsthalle Göppingen entstandenen Labyrinth aus Lamettastreifen. Dort legt das Raster ebenfalls seine Strenge ab, überrascht mit schimmernder Leichtigkeit und offeriert befremdende Begegnungen mit dem eigenen Spiegelbild. In Iris Wall setzt sich Mosler mit der funktionalistischen Architektur der Moderne auseinander, mit ihren Curtain walls aus Stahl und Glas und ihren Versprechen von Transparenz und geordneter Klarheit. Diese Ideologie schmuck- und schnörkelloser Geradlinigkeit lässt Mosler in einen Irrgarten münden, der auf irritierende Weise Äußeres nach innen kehrt: Auch im Innern ist Iris Wall eine geometrische Konstruktion aus spiegelnden Vorhängen – eine Abfolge von Hüllen, die kein Zentrum, kein Allerheiligstes bergen.

Die Kunst von Mariella Mosler erwächst aus einem vitalen Interesse an der Außenhaut der Dinge. Während andere Künstler nach Tiefe streben, reizt Mosler die Oberfläche, gleichermaßen als Wert an sich und als Schauplatz, an dem Tiefenstrukturen menschlichen Denkens und Handelns sichtbar werden können. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich immer wieder auf ein Oberflächenphänomen, das in der westlichen Moderne als Nebensache, als unkünstlerisches und entbehrliches, ja sogar verwerflich trügerisches Beiwerk abgetan wurde: das Ornament. Das von Verfechtern einer puristischen Ästhetik marginalisierte Repertoire der Zier- und Schmuckformen bildet ein engmaschiges und doch weit gespanntes Netz, das zentrale Themen, Motive und Strategien Moslers verknüpft.

Mariella Mosler erkundet die Geschichte des Ornaments und die Möglichkeiten ornamentaler Gestaltung vom Decorum des Barock bis zu den dekorativen Vorlieben unserer Zeit. Ihr Referenzrahmen umfasst auch außereuropäische Ornamentik, die zeichenhafte Bildsprache barocker Embleme und die um 1600 aufblühende Institution der Kunst- und Wunderkammern – Sammlungen, in denen natürlich entstandene und von Menschenhand geschaffene Wunderwerke eine göttlich geordnete Entwicklungsgeschichte der Welt vor Augen führen sollten. Mosler verschränkt solche historischen Dimensionen des Ornamentalen mit Fragestellungen der Gegenwart. So entstehen Großskulpturen wie die von Korallenbäumchen und italienischem Design der 1960er Jahre inspirierte Bronze Roter Baum (S. XX–XX); kleine Silbergüsse von austreibenden Herzkartoffeln, die als flammende Love Hearts (S. XX–XX) religiöse Symbolik zitieren und eine Brücke zwischen Speise- und Kunstkammer schlagen; filigrane Miniaturen aus geflochtenem Haar oder raumgreifende Installationen aus Sand und Süßigkeiten.

Komplex gegliedert, präzise austariert und im Prinzip unendlich fortsetzbar, verweisen Moslers florale oder geometrische Strukturen immer auch auf Ordnungssysteme, die unser Leben bestimmen – in Naturwissenschaft und Kunst, Politik und Gesellschaft, Sprache und Denken. Allerdings entscheidet sich Mosler oft für Ausschnitte und räumliche Anordnungen, die es unmöglich machen, den Rapport des von ihr gewählten Grundmusters zu erkennen. So bleibt das augenscheinlich Geordnete doch undurchschaubar, entzieht sich dem kontrollierenden Überblick. Umso wirkungsvoller kann das Ornament seine besondere Qualität entfalten: eine selbstgenügsame, verschwenderische Schönheit, die sich gegen Funktionalismus und ökonomische Zwänge behauptet.

Den Stachel des Zweckfreien und Überflüssigen spitzt Mosler durch die Wahl von Materialien zu, in denen sich Natur und Künstlichkeit reiben: Sie formt Ornamente aus formlosem Quarzsand, den sie zu scharfkantigen Graten aufschüttet; wählt gebleichtes und gefärbtes Menschenhaar – die industriell bearbeitete Variante einer durch Mythen und Rituale aufgeladenen Substanz – um die mathematisch exakten Strukturen von Mikroorganismen oder Schneekristallen darzustellen; verkettet Fruchtgummis, deren Künstlichkeit durch die Beigabe naturidentischer Aromen ins Extrem getrieben ist, zu üppig rankenden Arabesken.

Die Süßigkeit als materialisierte Verführung und mit individuellen Emotionen besetzte Massenware ist auch der Rohstoff für Moslers neueste Bodenarbeit Hundreds and Thousands, ein zwölf Meter langes und sechs Meter breites Mosaik aus Liebesperlen (S. XX–XX). 500 Kilogramm dieser kleinen Zuckerkugeln, die üblicherweise als buntes Durcheinander in Babyfläschchen angeboten werden, arrangiert Mosler zu einer bemerkenswerten Mega-Struktur – die Objekte kindlicher Begierden verlassen ihre infantile Verpackung und schließen sich zu einer leuchtenden, pointillistisch-pixelartigen Formation zusammen. Der kühl berechneten Großform verleiht Mosler ein pulsierendes Innenleben: Während ein Gitter aus weißen Stegen der Komposition Halt gibt, dehnen sich in den Zwischenräumen wellenartige Farbbänder, die an Aufnahmen von Wärmebildkameras denken lassen. Ungenießbar und doch Genuss bereitend, kann Hundreds and Thousands vielerlei entzünden: sentimentales Erinnern, analytisches Betrachten oder pures Staunen über eine wundersame Metamorphose.