Jens Asthoff
Schönheit, als Oberfläche Zur Arbeit von Mariella Mosler
Katalog Schloß Bleckede/Hamburg, 2000

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Mit der Verführungsmacht des schönen Scheinens spielt Mariella Mosler ebenso andächtig wie amüsiert das Verdikt einer ornamentfeindlichen Moderne gegenüber der Folie des autonomen Werkes aus. Jene Art staunender Vorbehaltlosigkeit, zu der ihre Arbeiten Ausstellungsbesucher immer wieder herausfordern, ist zugleich ihre Provokation. Eine Schönheit, in der die selbstreferentielle Zwecklosigkeit des autonomen Kunstschönen wie eine Travestie vor Augen steht: gleichsam schwerelos, in subversiver Weise unterfüttert von Dezenz und Delikatesse.
I
Bereits in der Auswahl der auffallend wenigen und dabei so unterschiedlichen Material-Arten, die Mosler verwendet, scheint etwas Spezifisches zu liegen. Fruchtgummi, Sand und menschliches Haar: das eine ein bereits ästhetisiertes Nahrungsmittel; das andere ein so elementares wie billiges, amorphes Material, das eine bloß fragile und vergängliche Formung erlaubt; schließlich eines, das als Teil und Produkt des menschlichen Körpers mit einer Vielzahl affektiver Zuschreibungen besetzt ist. Mosler benutzt diese Ausgangsstoffe unabhängig voneinander in eigenständigen Werkformen, deren jeweilige Weiterentwicklung auch mit der Verwendungslogik des Basismaterials verbunden bleibt.
So unterschiedlich die Stoffe auf assoziativer Ebene erscheinen, ist ihnen gemeinsam, dass sie sich kaum für „kompositionellen“, aber für akkumulativen Gebrauch eignen: Herstellung von Oberflächen durch Reihung, Schüttung, Verflechtung und ähnlichen Verfahrensweisen. Sie sind über ihre bloßen Materialeigenschaften hinaus auch kulturell codiert und schleusen bestimmte Assoziationsfelder in die jeweilige Arbeit ein. Material ist deshalb ein strategischer Aspekt bereits der Form. Es entstehen komplexe Bodenornamente aus Sand, farbig-arabeske Wandarbeiten aus Fruchtgummi und winzige geflochtene Objekte aus Haar.
II
Ornament ist bei Mosler formale Gestaltungsweise, Thema und visuelle Strategie. Als bloße Flächenorganisation, die nichts behauptet außer ihrer selbst als Strukturierungs-Formel, lässt Moslers Einsatz des Ornaments im gegenwärtigen kulturellen Kontext – nach einer Moderne des 20. Jahrhunderts – eine spezifische Leerstelle der Repräsentation erkennbar werden.
Jenseits von Kategorien wie Autorschaft, individueller Handschrift oder Subjektivität verortet, blieb das Ornament dem modernen Ausdruckswillen seit je verdächtig. Zu spielerisch, zu sehr Beiwerk, in jeder Hinsicht durch zuviel „zu“ kompromittiert, passte es nicht in den gedanklichen Raum einer abendländischen Kunst, die sich am Ideal absoluten Bedeutens orientierte, in ihren Werken „das sinnliche Scheinen der Idee“ erleben und Schöne Kunst nur als „Kunst des Genies“ verstehen mochte. Die Geltungsinstanz eines exemplarisch autonom schöpfenden Subjektes war mit der Vorstellung von autonomer Kunst unmittelbar verknüpft.
Diese Auffassung, in der der Kunst bis weit in die Moderne ihr potenzielles Ausdrucks- als Repräsentationsvermögen zugewiesen war, wurde bis in ihre dialektische Negativität hinein verfolgt – in „unversöhnte“ Formen wie solche des Fragmentarischen, des Hässlichen, des Subjektivistischen. Das Kunstschöne steigerte sich zu einer komplizierten ideellen Angelegenheit, deren Geltungsanspruch zuletzt allein im Individuum einlösbar erschien. Es wurde zu einem radikal Authentischen. Eine Logik, in der sich ein taschistischer Maler mit der Qualifizierung seines Werkes als dekorativ noch regelrecht beleidigt fühlen konnte – galt ihm die Oberfläche doch als „Ausdruck“, insofern sie von zugrunde liegender Subjektivität künde, diese als ihre „Tiefe“ repräsentiere. Dieser Subjektivierung, die in die Utopie eines Universalcodes, einer „Abstraktion als Weltsprache“ einmündete, begegnet das Ornament wie eine leere Grammatik, in der sich ihre jeweilige Besetzung spiegelt.
III
Ornament zielt offen auf Gefallen und ist als Schmuck auch Ausdruck einer Lust. So steht es in Abhängigkeit eines Begehrens, das die Kunst in ihrer Autonomie doch zu versöhnen hätte. Eine sich daraus herschreibende Ornamentfeindlichkeit versuchte insbesondere Adolf Loos am Entwurf einer „hygienischen Gesellschaft“ moralisch, aber auch ökonomisch zu rechtfertigen. Loos, der Kulturleistung als Sublimierung auffasste, spielte gegen diese das Ornamental-Reizvolle aus und machte dessen Abwertung zum übergreifenden Modellfall von Kultur. Der unterordnende Impuls, der sich in Kants Terminus eines „interesselosen Wohlgefallens“ womöglich ankündigte, erlebte in Loos’ Argumentation eine Art der Radikalisierung, die heute eher seismographische Qualität hat. Regiert der Autonomie-Gedanke die Konsequenz der Form, erscheinen Dekor und Ornament bloß als Beliebigkeit.
Doch wer regelt, was beliebig ist? Mit der Einsicht in die zeichenhafte und mediale Konstruiertheit von Subjektivität erfährt die Gewissheit eines ursprünglichen, cartesianischen Ichs heute eine fortschreitende Ersetzung durch dekonstruktives Spiel. Darin wird das Subjekt zum Phantom einer Vielzahl es formierender gesellschaftlicher Diskurse, und wäre eher von den Rändern her, denn als zentrale Instanz anzusprechen. Mit der Inversion des Subjekts zerfällt auch die Vorstellung von ästhetischer Autonomie. In der Konsequenz tendiert das künstlerische Werk zum signifikanten Durchgangspunkt, an dem eine Auslotung der in den diskursiven Kräftespielen beteiligten Faktoren möglich ist, und für das kein fixer Standpunkt außerhalb des Spieles denkbar wäre.
IV
Mosler arbeitet mit den vielschichtigen, teils widersprüchlichen Besetzungen ihres Materials, das – spielerisch wie hinterrücks – die Affekte der Betrachter ködert und sich doch jederzeit auf seine Einbettung in die formale Oberfläche des Ornaments zurückziehen darf. Ihre visuelle Strategie baut darauf auf, dass das Ornament seine semantische Schicht strikt in der Oberfläche bündelt und darin ausdrücklich macht, dass es nichts „dahinter“ gebe, keine symbolhaften Bedeutungsvalenzen, kein Subjekt eines ästhetischen Autonomieversprechens.
Das Ornament ist in ganz anderem Sinne frei: Es repräsentiert keine Autorschaft, vielmehr entspringt es öffentlichem Eigentum. Es ist Produkt aus anonymen Traditionslinien, an denen zahllos Viele mitgeschrieben haben. Moslers Transfer solcher Formen in einen zeitgenössischen Kunstzusammenhang erzeugt eine hybride Struktur: Einerseits schreibt sie die von ihr verwendeten Muster in nicht-auktorialer Weise fort, reiht sich also in die Linie ein – andererseits ist sie als Teilnehmerin im Kunstdiskurs auch individuelle Schnittstelle, die Material aus verschiedensten kulturellen Zusammenhängen auswählt, kombiniert, also ein a-historisches Sampling betreibt, und dadurch wiederum aus Traditionsgebundenheit heraustritt.
In ihrer Arbeit verbindet sich die Abwesenheit semantischer Tiefe mit einer charakteristischen Demonstration von Schönheit. Gezielt werden hedonistische Kategorien, wie Verschwendung (von Zeit in einer auf Vergänglichkeit angelegten Form) oder Verführung (zur Übertretung des „interesselosen“ Schauens im Gefallen) avisiert, die sich in latentem Widerspruch zu Vorstellungen von Schönheit aus künstlerischer Autonomie befinden. Die Schönheit von Moslers Arbeit ist in ihrer Verweigerung von Repräsentation einerseits selbstgenügsam: Dem Sehen ist keine Bedeutung auferlegt. In dieser Introvertiertheit ist sie andererseits durch raffinierte Verschränkung von Üppigkeit und Sprödigkeit exponiert.
V
Sparsam wandfüllende Ornamente aus Fruchtgummi: Wer sich den farbig-linearen Arbeiten nähert, ist im ist Augenblick des Erkennens frappiert. Die überraschende Kreuzung von Material und Form verschränkt sich im Moment des Entzifferns unmittelbar zum Bild. Ornamentale Struktur und süße Füllung unterstreichen und affirmieren einander wechselseitig in ihrer Eigenschaft als Genussmittel. Sie kommen in der schönen Oberfläche überein, und in ihr spiegelt sich „Geschmack“ statt „Geste“. Assoziiert mit der Leichtigkeit eines Kinderspiels, in dem aus bunten Süßigkeiten prächtiger Schmuck und leuchtendes Kristall gezaubert wird – zugleich aber eine präzise an der kulturell gehobenen Formensprache der Ornamentik entlang ausgesponnene Umsetzung.
Die direkte Lust am Einverleiben süßer Genussware ist mit der Auslegung zum Ornament demonstrativ in unmittelbare Lust am Schauen aufgehoben. In der dem Schönen angehängten exemplarischen Versagungsgeste wird lapidar auch jene Sublimierung bildlich durchgespielt, wie sie anders ein „Geistiges in der Kunst“ zur Voraussetzung machte. Als Nahrung ist Süßkram der pure Appell ans Begehren, das Gegenteil vom Ernst eines „täglich Brot“ oder des „Mit Essen spielt man nicht“. Zu letzterem fordert das Ess-Spielzeug regelrecht auf. So sinn- wie geschmacksabhängig, sind die Kaustücke schon Nahrung als Dekor. Dies implizit ornamentale Prinzip verlängert Mosler in deren Verwendung als Wandschmuck hinein: Die pure, in entgangenem Genuss sogar gesteigerte Verschwendung, was hier als dekorativ, auf andere Weise lustvoll also, und unerreichbar vorgesetzt wird. Ist es latent anstößig, auf diese Art mit Essbarem zu verfahren, wird es im Entzug durch Kunst zum Schein ins Schöne transformiert, und bleibt doch dem Begehren greifbar nah.
VI
Kann man den Wandornamenten Moslers mit relativem Abstand gegenübertreten, fällt die Präsenz anderer Arbeiten drastischer aus – etwa eine Installation im Schloss Solitude bei Stuttgart. Dort hatte Mosler einen engen Fahrstuhl lückenlos mit Fruchtgummi ausgekleidet. Die dicht an dicht verfugte Reihung bestand aus einer einzigen Sorte: stilisierte „Kuss-Lippen“, rot, auf weißem Schaumgummigrund appetitlich gehöht. Gleichgültig, was einem zuerst auffallen mochte, die einzelnen Stücke oder die einprägsame Gesamtwirkung des strahlend roten, von künstlich-süßlichem Aroma durchzogenen Raumes, der sich, kaum betreten, hinterrücks schließen und in Bewegung setzen würde. Die Wirkung dürfte im Zusammenfall von Erleben und Erkennen anzusiedeln sein.
Im Gegensatz zur sparsamen Gliederung früherer Wandarbeiten geht Mosler in dieser Installation im „all-over“-Prinzip geschlossener Flächen vor. Die Ausrichtung der „Lippen“ verläuft in einer den Blick des Betrachters wandübergreifend führenden Bewegung, die sich vom Standpunkt beim Betreten des Fahrstuhls aus, asymmetrisch von links unten nach rechts oben zieht und dabei in einem dezentral gewählten Punkt an der Decke mündet. Der Raum wirkt geschlossen und in kreisend aufwärtsgerichtete Dynamik versetzt. Eine Relativierung von Betrachterdistanz, affektiv verortet zwischen schützendem Kokon und klaustrophobischer Bedrohung. „Interesselosigkeit“ ist wohl in jedem Falle außer Kurs gesetzt.
VII
Einen ganz anderen Zugang zur Erscheinungsform des Schönen stellen Moslers aus Sand geschütteten Bodenornamente dar – komplexe Reliefs, die ohne weiteren Träger in geschlossener Fläche aufgebracht werden. Sand ist ein formloses und anonymes Material, ästhetisch unverdächtig. Mosler verwendet keinerlei Zusatzstoffe, die etwa der Fixierung oder Bindung des Materials dienten. Umgekehrt orientiert sie die Formung strikt an den durch Materialeigenschaften gegebenen Möglichkeiten und schöpft diese mit der Komplexität der ornamentalen Muster in äußerster Zuspitzung auf das Machbare aus. Am Beginn der Arbeit steht die Analyse des gegebenen Raumes. Ornament fungiert darin nicht als autonome Skulptur, sondern als raumbezogenes Dekorum. So kann es räumliche Ordnung (re-)organisieren und behaupten – als Struktur, die Fläche dezentral besetzt und im Rapport einer potenziell unendlichen Ausbreitung ohne Mittelpunkt entspricht. Erst der Raum bildet die Schnittstelle, an der sie sich konkretisieren kann.
Die exakten geometrischen Entwürfe werden in Handarbeit ausgeführt. Ein Vorgang von künstlerisch nachgeordneter Bedeutung, solange er nur mit äußerster Sorgfalt geschieht. Die Umsetzung ist frei von Expression. Moslers differenzierende Genauigkeit wird im Vergleich einzelner Arbeiten erkennbar: So können die Ornamentflächen durch die Begrenzungen eines Raumes beschnitten werden, wie etwa bei der Arbeit auf der documenta X in Kassel, einem freien Entwurf Moslers, der auf sich überlagernden und miteinander verbundenen Kreisformen beruht. Oder sie werden in zugewiesener Ausdehnung raumbezogen positioniert, wie im Oldenburger Kunstverein, wo Mosler ein durch verschlungene Knotenornamente aufgebrochenes Mäanderband realisierte. Im offenen Formenrepertoire sind Motive verschiedenster Kulturkreise eingebunden – geometrisch-sternförmige, floral-geschwungene Elemente oder komplizierte Rosetten und Arabesken. Stets wird Ornament raumgliedernd eingesetzt, um Positionierung der Form zum Raum und ihre Binnenstruktur miteinander zu verzahnen. In suggestiver Intervention wird Raum erlebbar umgedeutet.
Die Anfälligkeit der Sandarbeiten für Zerstörung, die bei Betrachtung beinahe körperlich spürbar wird, und auf der die Schönheit der Arbeit förmlich aufruht, kann zwiespältige Gefühle auslösen. Neben unmittelbarer Umsicht wohl auch den Reiz, zumindest eine minimale, womöglich gar größere Störung zu hinterlassen: die eigene Spur im Sand, die eine andere überschreibt oder auslöscht. Ein Impuls, sich als anonymer Autor mit ins Spiel zu bringen, schwingt unweigerlich mit.
Mosler hat dies bei einigen ihrer Arbeiten gezielt in die Formulierung einbezogen. Im Kuppelsaal des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart legte sie ein riesiges, am Durchmesser der Kuppel orientiertes Kreisornament zugrunde, dessen Mittelpunkt sie im Verhältnis zu dem des Raumes so verschob, dass der Rapport irrational zur herrschenden Raumordnung verlief. Durch Größe und dezentrale Rapportverschiebung war keines der Motive vollständig umzusetzen. Der gegebene Raum bildete ihre Schnittfläche und Begrenzung. Die Flächen zwischen den Ornamenten, glatt mit gesiebtem Sand bedeckt, waren zum Betreten vorgesehen. Das latente Spannungsverhältnis, dass die Arbeit zwischen Faszination von Unberührtheit und Wunsch nach deren Überschreitung impliziert, wurde den Betrachtern hier als Handlungsspielraum überantwortet und schrieb sich beim Durchschreiten ins Gesamtbild ein.
In ihrer Fragilität sind Moslers Sandornamente auch Realisierungen von Zeit. Nicht nur, dass ihre Herstellung, bloß für die Dauer einer Ausstellung, jedes Mal mit großem Zeitaufwand verbunden ist, und mit der Empfindlichkeit der Arbeit zugleich ihre Vergänglichkeit vor Augen steht. Die Frage nach dem Sinn solch einer Sisyphusarbeit, die von vornherein nicht festgehalten werden kann, stellt sich bei manchen Betrachtern ein. Tatsächlich ist Moslers Arbeit radikal in der Behauptung des Augenblicks und bindet dies in der Erfahrung des Schönen. Der Rückzug an die Oberfläche unter Abweisung jeglicher Verdinglichung macht in den Arbeiten ein Moment von Ökonomie zum Reibungspunkt. Sind sie doch offenbar ein Fall von Zeitverschwendung: Eine sichtbar intensive Investition von Energie in etwas, das seinen „Wertzuwachs“ – das Gelungensein, die Schönheit – planmäßig und provokativ im Effekt verspiele. Auch über die ästhetische Perspektive hinaus kollidieren in den Sandobjekten Perfektion der ausgeführten Form und deren Zeitlichkeit. Sie entziehen sich einer „Einspeisung in den Verwertungskreislauf der Ware ‘Kunst’“. Ein Spannungsverhältnis, aus dem die errichtete ornamentale Ordnung ihren anti-monumentalen Gestus bezieht.
VIII
In der jüngsten ihrer Werkformen verwendet Mosler menschliches Haar. Ein ambivalent besetzter, teils tabuisierter Stoff, bei dem allein die Rede vom „Material“ Empfindlichkeit auslösen kann. Als Teil des Körpers und ans Individuum gekoppelt, ist es, abgetrennt, latent mit Gewalthandlung assoziiert, sofern es nicht freiwillig geschenkt wurde – wie etwa die Locke als Liebesbeweis. So verbindet sich mit Haar auch Intimität. Es „hat in allen Kulturen eine Sonderstellung: Solange es auf dem Kopf ist, gilt es als Zeichen [...] für Lebenskraft und sexuelle Energie [..., während es auch ...] in Unterwerfungs- oder Strafaktionen eine Rolle [spielt] – man schneidet es ab, man rasiert den Kopf“. Einer merkantilen Spielart solcher Verhältnismäßigkeit entstammt das aus Asien importierte (Frauen-)Haar. Bewusst wählt Mosler anonyme Handelsware. Das Material, in Standardlängen erhältlich, vorwiegend zu Perücken verarbeitet, geht nicht in seinem Gebrauchswert auf. Es trägt den Reflex auf individuale Integrität in sich fort, ohne ihn jedoch zu personifizieren. Der Bezug zur menschlichen Lebenszeit ist in diesen Werkstoff eingeschrieben: Haar wächst um etwa einen Zentimeter im Monat und ist insofern akkumulierte, individuelle Zeit. Im biologischen Rhythmus liegt für jeden Betrachter eine affektive Anbindung, eine elementare Relation zum Material. Darüber hinaus setzt aber Inszenierung ein: Das asiatische Haar, genuin schwarz, wird im kommerziellen Vertrieb in praktisch allen denkbaren Tönungen angeboten, bis hin zu hellstem Blond oder Grau. Vermeintliche Spuren des Persönlichen sind im Ausgangsmaterial durch chemische Bearbeitung künstlich erzeugt. Intimität und Individualität sind Projektion.
Die in aufwendiger und komplizierter Handarbeit gefertigten, winzigen und filigranen Haarobjekte sind als singuläre Ornamentfiguren konzipiert und nicht in einen Rapport eingebettet. Als „Einzelornamente“ ein Selbstwiderspruch, denn das charakteristische Applikations- und Repetitionsverhältnis von Motiv zu Grund ist hier auf das Extrem einer relationslos solitären Form zugespitzt. Ohne Wiederholung der geometrischen oder vegetabilen Elementarstrukturen wurde jedes Motiv nur ein Mal realisiert. Die Unikate sind nicht auf einen Raum bezogen, sondern auf ihre Binnenstruktur ausgerichtet – wie ein auf sich zurückgeworfenes Dekor. In Augenhöhe gleichmäßig gereiht auf dünnen Metallstäben präsentiert, scheinen die Objekte freiplastisch vor der Wand zu schweben.
Diese individualisierte Verwendung von Ornament wird zum Bild von Selbstreferentialität im Leerlauf. Sie paraphrasiert das autonome Werk in der Oberfläche der schmuckvollen Preziose, die allerdings nicht abstrakt bleibt, sondern von Mosler als Austragungsort emotionaler Zuschreibungen gesetzt ist. Sind im kommerziellen Ausgangsmaterial einerseits alle individuellen Charakteristika des Haars inszeniert und anonym, schließt andererseits Moslers Umsetzung an kunsthandwerkliche Traditionen wie die des Haarschmucks und der Haarbilder des 19. Jahrhunderts an, deren Hervorbringungen als individueller „Erinnerungsschmuck“ stark emotionalisiert waren. In Moslers Objekten fungiert die Schmuckform als Fokus – wie eine am Dekor fixierte Erinnerung an jemand Unbestimmten, wie eine darin eingewobene Fiktion.
Anders als die raumgreifenden Sandornamente erscheinen die Haarobjekte als personalisierte Projektionsflächen, die Erfüllung freilich nicht in Aussicht stellen können. Unweigerlich entpuppen sie sich als leere Liebeszeichen musealer Provenienz, die von vornherein an nichts und niemanden erinnern. Die gleichwohl real und sichtbar in sie investierte Zeit – die des gewachsenen Materials ebenso wie die ihrer Herstellung – ist an die fiktionale Leerstelle eines selbstgegenwärtigen Subjekts geknüpft. Allein der leibliche Ursprung des Werkstoffs und die individuelle Lebenszeit, die sich in Wachstum und Verarbeitung sedimentiert, sind als anonyme Spur von Authentizität präsent. Daran mag sich, im Ausschmücken strukturell ungesättigter Innerlichkeit, noch eine Kette offener Fiktionen heften – Moslers Objekte markieren die genaue Grenze zwischen beidem.