Annett Reckert
Hinter den Spiegeln
Iris Wall. Mariella Mosler, Katalog Kunsthalle Göppingen 2004
Im Jahr 1934 versetzte sitch der Psychiater Gaetan Gatian de Clérambault auf einem Stuhl vor einem Spiegel sitzend einen tödlichen Schuss: Clérambault, für den das Sehen eine einzige Leidenschaft war, begegnete hiermit dem Prozess seiner fortschreitenden Erblindung. Die Inszenierung seines letzten Bildes verweist auf seine narzisstisch-voyeuristische Veranlagung, aber auch auf das ambivalente Empfinden von Faszination und Aggression, das der Spiegel auszulösen vermag.
Zwei Jahre nach dem Tod seines Lehrers Clérambault veröffentlichte Jacques Lacan seine Theorie des „Spiegelstadiums“, eine Theorie über die Bildung des Ich als psychische Einheit im frühen Kindesalter: Auge in Auge mit dem spiegelbildlichen Gegenüber geschieht nach Lacan “das ursprüngliche Abenteuer, in dem der Mensch zum erstenmal die Erfahrung macht, daß er sich sieht, sich reflektiert und sich als anders begreift, als er ist - die wesentliche Dimension des Menschlichen, die sein ganzes Phantasieleben strukturiert.“1
Mit der begehbaren Installation „iris wall“ verschafft Mariella Mosler in der Kunsthalle Göppingen einem zerschlissenen Verwandten des Spiegels, dem Lametta, einen atemberaubenden Auftritt, der die Begehrlichkeiten des Auges weckt und zugleich das sonst so verlässliche Spiegelbild in eine fadenscheinige Fragmentierung und Auflösung überführt. So erinnert „iris wall“ an unsere Spiegelverhaftung und den zwingenden Zusammenhang des Sich-Erkennens und Verkennens im Prozess der Subjektkonstitution.
Wenn sich kein Lüftchen regt und absolute Stille herrscht, erscheint „iris wall“ als ein eingeschwebter, eisig erstarrter und irrealer Raumkörper, der dem Minimalismus eine Referenz erweist. Verschwindet dahinter und darin die Stützkonstruktion der Göppinger Sheddachhalle, so spielt Mariella Mosler zugleich mit der architektonischen Konzeption der Curtainwall, einer vor die tragende Konstruktion gehängten Fassade aus Stahl und Glas. 2 Wer sich nun auf den Weg entlang jener zunächst so kühlen Fassade begibt, erzeugt ein leises Vibrieren oder Aufwehen der Lamettafransen. Erste spähende Blicke durch sie hindurch provozieren die Suche nach dem Einlass in das geheimnisvolle Innere und ist dann einer der beiden Eingänge passiert, laden die vorgegebenen Wege zum Lustwandeln in einen verwunschenen Garten ein. Dabei beeinflussen die immer enger werdenden Windungen des Weges das Tempo der Bewegung. In jedem Fall erzwingen sie eine gewisse Dauer des Aufenthaltes und damit eine sich steigernde Intensität des Erlebens. Berauscht zeigt sich dem Wandelnden das sonst so tadellose Spiegelbild tausendfach zersprengt.
Schritt für Schritt erschließt sich der Grundriss als ein Mäanderrapport und somit erweist sich „iris wall“ als ein zur Scheinarchitektur gewordenes Kürzel für das Labyrinth, ohne wirklich ein solches zu sein. Zwei Zentren schlagen ein Verweilen vor und gerade hier kippt die schweifende Wahrnehmung beim Gehen unwillkürlich in Versuche der Konzentration und Fokussierung auf die Spiegelungen der vergleichsweise trüben Oberfläche des Lametta. Es sind die Fragmente der eigenen Erscheinung, denen diese Fokussierung gilt. Schwindsüchtig flimmern sie in den unendlichen Nuancen des Grau, das sich je nach Lichteinfall zum strahlenden Silber steigern kann. Und erst die mitgebrachten Farben der Besucher entfalten jene Auffächerung in die Farben des Regenbogens, die der Titel der Arbeit verheißt: Die Göttin Iris steht für den Regenbogen, dessen Bildung einst auf das beständige Niederfallen von Regentropfen als winzige reflektierende Spiegel zurückgeführt wurde.
Die Beschäftigung mit dem Ornament und der akkumulative Einsatz von Material kennzeichnen die Arbeitsweise Mariella Moslers. In den vergangenen Jahren gehörten Sand, Haar und süße Fruchtgummis dazu - sämtlich Materialien, die einen behutsamen Umgang fordern und die das Geschaffene von vornherein als ein Vergängliches vorstellen. Mit dem Einsatz der schillernden Lamettafransen entfaltet sich nunmehr ein subtiler Humor, da ihnen das Moment der simplen Täuschung anhängt: Lametta behauptet Himmlisches und täuscht Kostbares vor, im übertragenen Sinne verleiht es dem Eitlen Glanz und Glorie. Ausgerechnet jenem Glittertand, in dem das in der Moderne viel kritisierte Schmuckbedürfnis des Menschen einen fast rührenden Ausdruck findet, richtet „iris wall“ ein rauschendes Fest. Die Huldigung des Überflüssigen, der geradezu verschwenderische Umgang mit Arbeitskraft und Zeit, ist der Göppinger Installation wie vielen anderen Arbeiten der Künstlerin zu eigen. Mariella Mosler schafft verletzliche Gebilde, die sich einer leichten, kunstmarktkonformen Einspeisung verweigern. Sie sind jeweils eine ökonomische Groteske, die die Zeit der Realisierung mit zum Thema machen, indem sie die Vernunft provozieren, die mit einem vermeintlich sinnvollen Verhältnis von Aufwand und Effekt argumentiert. Einmal mehr finden wir stattdessen das Erscheinen von Schönheit gesteigert in der Vorstellung von Vergänglichkeit.
„Iris wall“ ist ein verführerisches Blendwerk, das in der Tradition des Spiegelkabinettes steht. In dieser Tradition dokumentiert sich die Suche des Menschen nach einer Herausforderung der Sehgewohnheiten im Sinne einer Verzerrung und Fraktalisierung zum Beispiel durch Kaleidoskope, Anamorphosen, Panoramen oder eben Spiegelkabinette. Im neugierigen, fast süchtigen, dann wieder zögerlich-ängstlichen Schauen reizt „iris wall“ im Sinne einer Analyse der komplexen Situation unseren Intellekt ebenso wie unsere Affekte im Sinne eines ästhetischen Genusses. Und endlich verliert der Spiegel seine Flächigkeit und Kälte, die all seinen Tugenden - seiner Pünktlichkeit, seiner Präzision und seiner Brillianz - entgegenstehen. Die Regungen der Fransen und die mannigfaltigen Durchblicke in den umgebenden Raum schaffen eine diffuse Tiefe, die an ein geheimnisvolles Gewässer erinnert. Damit verwirren sie jede Gewissheit der Wahrnehmung bis hin zu einer Auflösung unserer Selbst in einem Raum, dessen Gesetze sich uns nur schwerlich erschließen. Werden schemenhaft andere Personen in den Windungen des Irrgartens registriert, so erfährt die Irritation eine Steigerung. Eine ohnehin befremdliche Situation von Privatheit im öffentlichen Raum wird durch die mehr oder minder spürbare Anwesenheit anderer Menschen verhindert. Nahende und sich entfernende Schritte schaffen eine veritable Spannung. Begegnet uns gar unerwartet der Blick eines Anderen durch den Vorhang hindurch, so verzahnt sich das eigene zerschlissene Spiegelbild beängstigend mit der Durchsicht auf den zerfurchten Fremden. Mit anderen zusammen sind wir, wie Alice, in die Welt hinter den Spiegel getreten.
Ob das Erleben der labyrinthischen Spiegelwelt ein Vergnügen oder ein Bedrängnis ist, hängt von der psychischen Integrität des Betrachters ab, von der Wahrnehmung dessen, was Lacan als die „Phantasie des zerstückelten Körpers“ bezeichnete. Gemeint ist jenes Stadium, in dem das Kind seinen Körper noch nicht als Einheit wahrnimmt. „Iris wall“ rührt an dem folgenschweren, wenn auch im Alltag höchst viablen Irrtum, eine Repräsentation - das Bild im Spiegel - als sich selbst anzuerkennen. Dies kann den Verlust einer Gewissheit bedeuten und damit Momente eines dezentralisierten Erlebens hervorrufen. Erst dies durchtrennt das mystische Band zwischen uns und unserem Bild im Spiegel, um das in seinen Varianten so immens reiche Spiel der Identitätsfindung und des Phantasielebens neu zu entfachen.
1 Jacques Lacan, Das Seminar von Jacques Lacan, Buch I (1953-54). Freuds technische Schriften (= Sem I), Olten 1978, S. 105.
2 Mies van der Rohes Absicht, mehr Transparenz für den Innenraum zu schaffen, bzw. Innen- und Außraum zu verschmelzen, führte zur Entwicklung einer Vorhangfassade aus Metall und Glas, die in seinen späteren Projekten für Hochhäuser realisiert und im Seagram Building 1958 zur Perfektion gebracht wurde.